Lexikon der Psychotraumatologie
ASB = Akute Belastungsstörung. Während oder unmittelbar nach einem traumatischen Stressor neigen manche Menschen verstärkt zur Dissoziation. Sie laufen Gefahr, eine PTBS zu entwickeln. Diese Diagnose kann bereits im ersten Monat nach dem traumatischen Ereignis gestellt werden Um eine PTBS eindeutig diagnostizieren zu können, muss ein traumatischer Stressor nach Kriterium A vorliegen. Die betroffene Person muss Symptome aller PTB aufweisen (Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und Erregung). Um Kriterium B zu erfüllen, müssen mindestens drei Dissoziationssymptome aus der folgenden Liste vorliegen:
Empfindungslosigkeit oder das Gefühl der Distanziertheit („das macht mir nichts aus, ach, das ist doch nur eine Kleinigkeit“).
Verminderte Wahrnehmung der Umwelt
Derealisierung („es ist nicht real, es ist wie in einem Film“)
Depersonalisation („wer bin ich, ich bin komisch, ...“)
Dissoziative Amnesie – Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern (jemand sieht Narben an seinem Körper, kann sich aber nicht an die Folter erinnern). Eine verletzte Frau hat nach einem Bombenanschlag keine Ahnung, warum sie voller Blut ist).
Quelle: Patricia A. Resick / Stress & Trauma
Akute Belastungsreaktion (ICD-11 F43.0). z. B. nach Katastrophen, Unfällen, sexuellen Übergriffen. Früher auch Nervenzusammenbruch oder psychischer Schock genannt. Die Reaktion beginnt sofort oder innerhalb von Minuten nach dem Ereignis. Die Symptome klingen rasch ab, spätestens nach einigen Stunden. Gemischtes und oft wechselndes Bild: zuerst „Schockstarre“, dann Depression, Angst, Wut, Verzweiflung, Überaktivität und/oder Rückzug. Diese Reaktion klingt in der Regel nach 24–48 Stunden ab. Nach 3 Tagen meist nur noch minimal vorhanden.
Amygdala = Mandelkern. Sie ist für die Bewertung neuer Informationen zuständig. Sie funktioniert wie ein Torwächter oder Bodyguard. Bei Gefahr schlägt sie sofort Alarm, aktiviert die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (Adrenalin) und den Sympathikus.
Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD-10 F62.0) Chronische, irreversible Folge von Extrembelastung wie Konzentrationslager, Folter, Katastrophe, andauernde lebensbedrohliche Situation (Geisel, Gefangenschaft mit Todesgefahr). Hier kann die Veränderung nicht durch die Vulnerabilität der Person erklärt werden, sondern eindeutig durch die extremen Umstände.
Anpassungsstörungen (ICD-11, F34.2). Bei Todesfällen (abnorme Trauerreaktion), Flucht, Emigration (Kulturschock), Hospitalismus bei Kindern, beruflichen Schwierigkeiten usw. können innerhalb eines Monats Anpassungsstörungen ausgelöst werden: depressive Reaktionen, Angst, regressives Verhalten (Bettnässen), aggressives oder antisoziales Verhalten.
Autonomes Nervensystem. = neurovegetatives System. Dieses Nervensystem steuert alle automatischen Funktionen des Körpers wie Atmung, Verdauung, Kreislauf, Sexualverhalten usw. Es besteht aus zwei Untersystemen: dem Sympathikus (Adrenalin) und dem Parasympathikus. Dieses System wird besonders bei Stressreaktionen beansprucht.
Debriefing. Technik der Psychotraumatologie. Es besteht aus zwei Sitzungen (Einzel- oder Gruppensitzungen): die erste (2-3 Stunden) findet einige Tage nach dem Ereignis statt, die zweite (viel kürzere) 8 Wochen später. Das Debriefing ist keine Therapie, sondern soll Komplikationen (wie PTBS) nach einem Ereignis vorbeugen. Im Rahmen des Stressmanagements werden Informationen vermittelt, um die normalen Reaktionen (Flashbacks, Erregung, Vermeidung) nach einem Schock zu verstehen und zu bewältigen. Am bekanntesten sind die Modelle von Mitchell und Perren-Klinger.
Defusing. Technik in der Psychotraumatologie. Manche Autoren beschreiben Defusing als ein informelles Gespräch, das direkt am Ort des Geschehens geführt wird. Keine definierte Technik also. Für den Traumatologen Mitchell (den „Erfinder“ des Debriefings) ist das Defusing dagegen eine präzise Technik, die in verkürzter Form die wichtigsten Schritte des Debriefings übernimmt.
Dissoziation. Das Gegenteil von Assoziation. Trennung. Der Begriff stammt aus der Chemie. Dissoziation ist ein Abwehrmechanismus oder einfacher gesagt: ein Schutzmechanismus für die Seele. Wenn in einer akuten Gefahrensituation oder in einer chronisch unerträglichen Situation (z. B. chronischer Missbrauch) weder Flucht noch Angriff möglich sind, schützt sich das Opfer, indem es Wahrnehmungen aus seinem Bewusstsein ausblendet. Das Opfer „verschwindet“, wird emotional taub, emotionslos, abwesend etc. Die Reize werden als unverarbeitete Fragmente gespeichert (ein einzelner Geruch, ein Bild ohne Ton, ein einzelnes Geräusch). Es entstehen Lücken im Gedächtnis, in der Konzentration oder in der Körperwahrnehmung.
Bei einem akuten traumatischen Ereignis werden der Hippocampus und das Sprachzentrum von Broca umgangen, mit der Folge, dass die Reize als rudimentäre Informationsfragmente im Neocortex gespeichert werden. Eine verbale Verarbeitung ist dann nur noch schwer möglich. Später können dissoziierte Erinnerungselemente als intrusive Bilder oder Flashbacks spontan wieder auftauchen.
Dissoziative Amnesie. Amnesie ohne organischen Befund als Folge eines Traumas. Sie wird nach einem Schock, aber auch bei dissoziativer Flucht beobachtet.
Dissoziative Störungen (ICD-11 F44): Früher Konversionsstörungen oder „Hysterie“ genannt. Hier steht der Begriff „Trennung vom Selbst“ im Vordergrund: Lähmungen, Sensibilitätsstörungen (der Patient spürt einen Teil seines Körpers nicht mehr), psychogene Amnesie (Vergesslichkeit ohne organischen Befund), Fluchtverhalten weisen darauf hin. Darüber hinaus können Depersonalisation und multiple Persönlichkeitsstörungen auftreten, wenn die Dissoziation die eigene Identität betrifft.
DSM-5 Abkürzung für Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. Erstmals 1956 von der American Psychiatric Association veröffentlichtes Klassifikationssystem psychischer Störungen. Die fünfte Revision erschien 2013. Es konkurriert mit dem System der WHO (ICD-11), das sich eher in Europa durchgesetzt hat. Das DSM wird von Forschern bevorzugt, da die Beschreibung der Störungen (z. B. die Kriterien) etwas präziser und restriktiver ist.
Exposition. Konfrontation mit dem Angstauslöser (z. B. Betrachten von Spinnenfotos bei Spinnenphobie, Besuch eines Geschäftes bei Klaustrophobie, Testflug bei Flugangst). Auch die Arbeit mit inneren Gedanken und Bildern (wie bei EMDR) ist eine Form der Exposition. Eine zu starke Exposition kann zu einer Retraumatisierung führen.
False memory. (engl. = falsche Erinnerung). Wenn im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung Erinnerungen an Missbrauch auftauchen, stellt sich die Frage, wie authentisch diese Bilder sind. In der Vergangenheit haben allzu suggestive Therapeuten ihre Patientinnen auf diese Weise beeinflusst. Dramatische Familienszenen waren die Folge: Unschuldige Väter wurden in Handschellen auf die Polizeiwache gebracht, und es dauerte Monate oder Jahre, bis die Situation geklärt war. Psychotraumatologen sind deshalb vorsichtig geworden. Auf der anderen Seite kann der Begriff „falsche Erinnerung“ als einfaches Argument benutzt werden, um die traurige Realität des Missbrauchs zu leugnen.
Hippocampus = Seepferdchen. Dieser Teil des Neokortex sieht aus wie ein Seepferdchen. Er spielt eine wichtige Rolle für das Kurzzeitgedächtnis. Er verwaltet die Informationen, die gerade von der Amygdala gescannt wurden und ordnet sie. Der Hippocampus ist sozusagen der Archivar des Gehirns. Bei chronischem Stress – wie bei Vietnamveteranen festgestellt – nimmt seine Masse unter dem Einfluss von Kortison ab.
Hypothalamus = unterhalb des Thalamus. Oberstes Zentrum des autonomen (vegetativen) Systems. Hier werden Funktionen wie Kohlenhydratstoffwechsel, Wasser- und Salzhaushalt, Hunger, Wärmehaushalt und Sexualfunktionen reguliert.
ICD-11 Internationale Klassifikation der Krankheiten. Diese von der WHO herausgegebene Klassifikation umfasst alle Krankheiten und Störungen des Menschen (Kapitel 5 bzw. F), die medizinisch relevant sind. Die 11. Revision erschien 2022. Psychiatrische Erkrankungen bilden das 5. Kapitel: daher beginnen alle Diagnosen der Psychotraumatologie mit einem F.
Intrusion. Intrusiv = eindringend. Beschreibt Erinnerungen, die nach einem Trauma in Form von Gedanken, Gefühlen (Schuld, Hass, ...), Bildern, Gerüchen usw. in die Psyche des Überlebenden eindringen. Er ist ihnen oft hilflos und ausgeliefert.
Kognition, kognitiv. (Griechische Wurzel - gno= erkennen). Der Begriff kognitiv beschreibt Prozesse, die mit dem Denken zu tun haben (analysieren, beobachten, beurteilen, ...) im Gegensatz zu emotionalen Prozessen (Trauer, Wut, Scham, ...). Es entspricht der Frage: „Was denkst Du?“ (statt: „Was fühlst Du?“). In EMDR ist eine Kognition eine Selbsterkenntnis oder ein Selbsturteil. Sie wird als Satz „Ich bin“ formuliert. Positive Kognition: „Ich bin ein guter Mensch, ich bin sicher“. Negative Kognition: “Ich bin schlecht, unfähig, verantwortungslos“.
Komorbidität, komorbid (lateinisch, morbus = Krankheit). Unspezifische Begleitsymptome. Bei PTBS findet sich in ca. 50% der Fälle eine Depression. Auch Suchtsymptome sind häufig.
Kriterium-A (DSM-5). Es definiert im Rahmen der PTBS-Diagnose die Bedingungen, unter denen ein Ereignis als traumatisch anerkannt wird: Das Erleben von Gewalt, ausserhalb der Norm, wobei die physische und/oder psychische Integrität angegriffen wird und Todesangst und/oder absolute Hilflosigkeit erlebt werden.
die Person hat ein Ereignis erlebt, beobachtet oder war mit einem Ereignis konfrontiert, das den tatsächlichen oder drohenden Tod oder eine ernsthafte Verletzung oder eine Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person beinhaltete
die Reaktion beinhaltete: intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Mobbing (engl. to mob = belästigen, schikanieren, anpöbeln). Form der Belästigung, bei der eine verzerrte Form der Kommunikation verwendet wird. Beleidigungen, Ignorieren, Einschüchtern, Missachtung der Privatsphäre, sexuelle Interpretationen, Verwirrungstaktiken sind bekannte Instrumente. Bekannt wurde Mobbing in den letzten Jahren durch die Veröffentlichungen des aus Deutschland emigrierten schwedischen Arztes und Psychologen Heinz Leymann und der französischen Psychiaterin und Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen (Le Harcülement, 1998).
PTBS = PTSD: (ICD-11 F 43.1)(DSM-5). Posttraumatisches Belastungssyndrom. Tritt in der Regel innerhalb von 6 Monaten nach einem traumatischen Ereignis von außergewöhnlicher Schwere bei ca. 15-30% der Überlebenden auf. Die Schwere des Ereignisses wird durch Kriterium A definiert. Es wird durch die folgenden drei Symptomgruppen charakterisiert: Wiedererleben, Vermeidung, hohe Erregung. Auch dissoziative Symptome werden beobachtet.
Ressourcen. (Source=Quelle). Externe Ressourcen. Externe Ressourcen sind Hobbys, Familie (wenn sie unterstützend ist), Freunde, gute Beziehungen, finanzielle Mittel, alles, was einem nach eigener Erfahrung gut tut. Innere Ressourcen sind gute Erinnerungen, ein Lied aus der Kindheit, positive Vorstellungen.
Parasympathikus. Teil des autonomen Nervensystems: verlangsamt den Puls, aktiviert die Verdauung, usw.
Phobie. Angst vor einer bestimmten Situation.
Posttraumatisch. = Nach einem Trauma. Diese Reaktionen können manchmal erst Jahre später auftreten.
Psychiater = von griechisch psyche = Seele und iatros = Arzt. In der Schweiz: (Dr. med.) Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH. Neben der Ausbildung in Psychiatrie (Lehre der verschiedenen psychischen Erkrankungen) und Psychopharmakologie müssen alle Psychiater, die den Facharzttitel nach dem 1. Januar 1998 erworben haben, über eine der anerkannten Psychotherapieausbildungen mit Diplom verfügen. Von den Psychiatern mit einem Facharzttitel älteren Datums haben viele, aber nicht alle, diese Ausbildung freiwillig absolviert. Neben der Psychotherapie darf der Psychiater wie jeder Arzt unter anderem Patienten untersuchen, medizinische Diagnosen stellen, Medikamente verschreiben, Arbeitsunfähigkeit bescheinigen und Gutachten erstellen.
Psychologe/in. Fachmann/Fachfrau für Psychologie. Das Studium der Psychologie wird in der Schweiz an verschiedenen Universitäten und Hochschulen angeboten. Um sich Psychologin oder Psychologe nennen zu dürfen, muss zuerst ein Bachelorstudium (Regelstudienzeit 3 Jahre) und anschliessend ein Masterstudium (Regelstudienzeit 2 Jahre) absolviert werden. Das Hauptstudium bietet ein Vertiefungsprogramm mit vier Wahlfächern (Allgemeine Psychologie, angewandte Psychologie, klinische Psychologie und Sozialpsychologie) und schliesst mit einer Prüfung ab. Psychologen, die sich als Psychotherapeuten spezialisieren, absolvieren eine anerkannte Psychotherapieausbildung (z. B. Psychoanalyse, Daseinsanalyse oder Verhaltenstherapie). Ein Fachtitel als Mitglied eines Berufsverbandes ermöglicht es PsychologInnen, Psychotherapie durchzuführen. In der Schweiz:
Psychotherapeut(in) FSP (FSP = Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, ein Zusammenschluss akademischer Psychologinnen und Psychologen).
Psychotherapeut(in) SPV (SPV = Schweizer Psychotherapeuten-Verband)
Psychotherapeut(in) SBAP (SBAP = Schweizerischer Berufsverband für angewandte Psychologie)
Resilienz = wieder aufstehen (lateinisch). Beschreibt die Fähigkeit von Überlebenden, auf Schicksalsschläge zu reagieren, sich zu behaupten. Einige Autoren wie z.B. Cyrulnik haben gezeigt, dass verlassene Kinder über weit mehr Ressourcen verfügen als bisher angenommen.
Somatisierung. Soma = Körper (griechisch). Verlagerung seelischer Schmerzen oder Spannungen in den Körper.
Stockholm-Syndrom. Das Opfer identifiziert sich mit den Interessen des Täters, geht z.B. ein Bündnis mit dem Entführer ein oder verteidigt den inzestuösen Vater.
Stressreaktion. Spezifische Reaktion nach einem kritischen Ereignis: Wiedererleben, Vermeidung und Erregung. In der akuten Phase sind diese Reaktionen völlig normal.
Sympathikus. Teil des autonomen Nervensystems. Er ist vor allem an der Produktion von Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin) beteiligt und aktiviert alle Funktionen, die den Körper auf Flucht oder Kampf vorbereiten: schneller Puls, tiefere Atmung oder konzentrierte Aufmerksamkeit.
Thalamus (griechisch = Schlafzimmer!). Teil des Zwischenhirns. Die wichtigste Schaltstelle zwischen Peripherie und Großhirn. Im Thalamus laufen alle Sinnesbahnen zusammen.
Trauma. Allgemeiner Begriff. In der Chirurgie: Verletzung. In der Psychiatrie bzw. Psychologie: Langzeitfolge einer seelischen Verletzung. In den letzten Jahren haben einige Autoren darauf hingewiesen, dass nicht nur große Traumata (Trauma-T) im Sinne von Kriterium A, sondern auch sogenannte kleine Traumata (Trauma-t) Patienten in ihrer inneren Sicherheit dramatisch treffen können, ohne dass sie jemals in Gefahr waren.
Vermeidungsverhalten. Das Opfer vermeidet alle Stimuli (Orte, Menschen, Lektüre, Bilder), die es an das Trauma erinnern. Dieses Verhalten kann völlig unbewusst sein.
Vulnerabilität. Psychische Verletzlichkeit, empfindliche Konstitution.